Montag, 3. August 2015

Metatherapie - Wegweiser auf der Suche nach der richtigen Therapie

In den letzten Monaten haben Mathias und ich viele Experten aufgesucht und waren auf der Suche. Ja, auf der Suche nach genau der einen, richtigen Therapie bezüglich Jonas’ Essproblematik und motorischer Entwicklung. Wir hatten einfach Angst, Angst, dass wir etwas verpassen. Wir haben viel Zeit damit verbracht, uns mit unterschiedlichsten Therapien auseinanderzusetzen. Dabei haben wir festgestellt, dass viel über einzelne Therapien geschrieben wird, aber nichts dazu, wie man mit einer Vielzahl von existierenden Therapieansätzen umgeht. Zu der Frage “Was ist die richtige Therapie für mein Kind?” möchten wir heute unsere persönlichen Erfahrungen teilen. Die Ideen sind dabei so allgemein, dass sie sich leicht auf andere Krankheitsbilder übertragen lassen.




Verantwortung lässt sich nicht abgeben

Wer eine Therapie beginnt, begibt sich vertrauensvoll in die Hände des Therapeuten. Man führt gewissenhaft die angeordneten Übungen oder sonstigen Therapiemaßnahmen durch. Man erscheint regelmäßig zur Kontrolle und überlässt dem Therapeuten die Entscheidung wie es weiter geht. Das schafft in gewisser Weise eine Erleichterung: Man gibt die Verantwortung über die richtige Entscheidung des weiteren Vorgehens an den Therapeuten ab.

Aber liegt darin nicht eine gewisse Gefahr? Kein Therapeut kennt das Kind so gut, wie die Eltern. Kein Therapeut, der ein Kind nur einmal pro Woche für eine Stunde sieht, kann den Fortschritt einer Therapie so gut einschätzen wie die Eltern. Aber bei dem Therapeuten handelt es sich doch schließlich um einen Experten. Muss der nicht wissen, was zu tun ist? Das kommt darauf an.
Bei Jonas’ Herzfehler waren sich alle Experten einig, was zu tun ist. Auch wenn über die Details der Medikamente und des genauen OP-Zeitpunkts oder Operateurs gestritten werden könnte. Bei solchen Dingen vertrauen wir uneingeschränkt auf die Experten (nachdem wir mehrere Meinungen eingeholt haben). Wir haben auf der Intensivstation auch Eltern kennengelernt, die ständig die Ärzte überwachen und ihnen Ratschläge geben wollten (“Gestern sah er fitter aus und war nicht so müde - dieses Medikament kann doch nicht gut sein”). Das halten wir für unnötig oder sogar gefährlich.

Aber im Bezug auf die Trinkprobleme von Jonas - oder auch im Bereich der Physiotherapie - unterscheiden sich die Expertenmeinungen sehr stark. Teilweise widersprechen sie sich so stark, dass ein Experte die Therapievorschläge eines anderen sogar für gefährlich hält. In solchen Fällen sollte man die Verantwortung also auf keinen Fall abgeben und alle Therapievorschläge kritisch in Frage stellen.

Das Parade-Beispiel

Die meisten Therapien kommen mit einem Paradebeispiel. Der Sohn einer Bekannten meines Onkels hat Therapie X gemacht und konnte nach 4 Behandlungen laufen. Hier besteht natürlich das Problem, dass solche tradierten Geschichten im Laufe der Zeit vereinfacht und übertrieben werden. Trotzdem ist man - gerade bei Geschichten aus zuverlässigen Quellen - immer geneigt, daraus Kausalzusammenhänge abzuleiten.

Die folgende Geschichte hilft mir dabei, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Jonas hat in den ersten richtig heißen Sommertagen dieses Jahres plötzlich gelernt sich von selbst herumzudrehen. Kinder entwickeln sich in Sprüngen. Monate übt er ohne große Erfolge, dann kann er sich plötzlich auf den Bauch drehen. Und schon einen Tag später schaffte er es auch vom Bauch zurück auf den Rücken. Trotzdem wäre es falsch den Schluss daraus zu ziehen, dass es an dem plötzlich sehr warmen Wetter gelegen haben muss. Möglich, dass die sehr leichte Bekleidung diesen Prozess etwas beschleunigt hat, aber trotzdem lernen auch im Winter Kinder sich herumzudrehen. Und ich rate allen Eltern von der Therapiemaßnahme ab, die Heizung auf 30 Grad aufzudrehen, wenn der Sprössling sich noch nicht dreht, obwohl das Durchschnittsbaby es schon vor zwei Monaten hätte können sollen. Wer regelmäßig mit neuen Therapien experimentiert, der muss damit rechnen, dass ein Entwicklungssprung irgendwann einsetzt. Trotzdem muss dieser nichts mit der aktuell betriebenen Therapie zu tun haben.

Die Studie

Na klar, bei einzelnen Fallbeispielen sollte man skeptisch sein. Studien untersuchen ja nicht ohne Grund immer sehr viele Menschen gleichzeitig. Also ist man auf der Suche nach der richtigen Therapie oft dankbar über Sätze die mit “Es gibt eine Studie, die” oder “Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass” beginnen. Dabei belastet man sich ungern mit Detailfragen. Wie haben die genauen Rahmenbedingung der Studie ausgesehen und passen diese auf die konkrete Problematik meines Kindes?  Gibt es auch andere Studien, die das Gegenteil gezeigt haben? Studien sind ein sehr wichtiges und gutes Mittel unserer modernen Medizin, aber man sollte ihre Aussagekraft differenziert bewerten. Wer die Existenz einer positiven Studie für den unumstößlichen Beweis für die Wirksamkeit einer Therapie hält, der sollte sich bewusst machen, dass sogar “wissenschaftlich erwiesen” ist, dass die Ergebnisse einer Studie in der Regel innerhalb von ein paar Jahren widerlegt werden (Link: http://www.newyorker.com/magazine/2010/12/13/the-truth-wears-off ).

Die richtige Therapie

Wir hatten am Anfang große Sorge, dass wir etwas verpassen könnten. Das wir es versäumen, die “richtige” Therapie zu finden und dass Jonas deshalb sein Trinkproblem nicht oder viel zu spät meistern wird. Aber wenn die Expertenmeinungen stark auseinander gehen, könnte das ein Anzeichen dafür sein, dass es nicht den einen “richtigen” Weg gibt. Es gibt verschiedene Therapien, die das Kind mehr oder weniger fördern. Aber es gibt keinen Knopf den man drücken kann und der innerhalb von ein paar Wochen das Problem behebt. Und: Man braucht sich keine Vorwürfe machen, wenn man diesen Knopf nicht gefunden hat.

Die Therapien verstehe ich mittlerweile mehr als Anregungen. Gut erklären lässt sich das am Beispiel der Physiotherapie. Bobath, Vojta und Castillo Morales sind verschiedene Schulen und jede bringt ihre eigenen Übungen mit. Aber lernt Jonas wirklich hauptsächlich dadurch, dass man wochenlange drei Mal am Tag mit ihm immer wieder die gleichen Übungen wiederholt? Jonas lernt meiner Erfahrung nach hauptsächlich durch seine eigenen Experimente, Spaß und Neugier. Ein Spiel dass vor einer Woche noch total spannend war, ist heute schon wieder langweilig. Und wenn Jonas es heute total spannend findet, auf meinem Bauch zu sitzen und sich nach vorne kippen zu lassen, dann ist das für Motorik und Gleichgewicht vermutlich auch recht förderlich, selbst wenn das so in keinem Lehrbuch steht. In diesem Sinne sehe ich die Physiotherapie-Übungen als eine Auswahl “besonders empfehlenswerter” Spielanregungen. Wenn Jonas es gerne macht und es ihn anregt, dann wird er vermutlich davon profitieren. Aber wenn ich ihn damit langweile, bringt es vermutlich nicht viel. Dabei kann man von den Therapeuten oft nützliche kleine Details lernen. Welches Spielzeug ist am besten in der aktuellen Phase? Wie fasse ich mein Kind am besten an, wenn ich ihm helfe sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen? Hier hilft die richtige Technik und der Erfahrungsschatz des Therapeuten, die besten Anreize für das Kind zusetzen.

Offen bleiben für Experimente

Wenn die Expertenmeinungen stark auseinandergehen, gibt es vermutlich nicht die eine, richtige, Therapie. Positiv gesagt kann man dann auch nicht sehr viel falsch machen oder verpassen, wenn man einfach experimentiert. Wichtig ist, dem Kind immer wieder neue Anregungen zu setzen und offen zu bleiben für Experimente. Statt nach einem festen Schema jeden Tag irgendwelche Übungen durchzuführen, ist es besser im Spiel interaktiv auf das Kind zu reagieren. Das Kind darin unterstützen, was es gerade spannend findet und evtl. Übungen darin einfließen lassen.



Bei unseren Essversuchen haben wir bemerkt, dass Jonas gerne an nassen Tüchern lutscht. Also haben wir vor ein paar Tagen eine Art Lutscher konstruiert. Dieser besteht aus einem feuchten Tuch, in das wir über einen Schlauch Brei oder Milch einspritzen können. Bei ersten Versuchen hat Jonas begeistert und ausdauernd daran gelutscht. Mittlerweile ist es ihm wieder etwas langweilig geworden. Also doch nicht der große Durchbruch? Nein, aber wieder ein kleiner Schritt vorwärts auf einem langen Weg.

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